Der Komponist und Gitarrist Marc Sinan betritt am Montag, dem 03.April 2017 im Technikum die reich gestaltete Bühne seiner Arbeit „I EXIST-nach Rajasthan„.
Das Konzert im Technikum steht im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt der Münchner Initiative „Double Road“, das mit Künstlern aus Bangalore in whiteBOX-Residency erarbeitet wird. Die musikalisch ethnologische Recherche in Rajasthan, dem trockenen Nordwesten Indiens, unternahm Marc Sinan mit den britischen Bühnenbildern und Video-Künstlern Delaine und Damian Le Bas, deren Erzählungen während des Konzerts auf der Videowand durch die Welt der dortigen Roma führen. Dabei ausschlaggebend war für das Künstler Ehepaar ihr eigener Roma-Hintergrund. Zusammen mit Marc Sinan, dessen türkisch-armenischen Wurzeln und den Menschen vor Ort entstand so eine Meditation über die Herkunft.
Am gleichen Abend, ein paar Häuser weiter, ist die TonHalle mit Christina Stürmer ausverkauft, im Technikum sitzen in schräger Bestuhlung, die die Besucher auch die Videowand rechts von der Bühne im Blick haben lässt, reichlich gespannte Gäste – immerhin handelt es sich hier um ein auch in multimedialer Hinsicht außergewöhnliches Stück zeitgenössischen Musiktheaters. München habe keinen wirklichen Ort für die Avantgarde, sagt Sinan. Und wenn es jemandem gelingen sollte, das zu ändern, dann wäre das Martina Taubenberger: Geschäftsführerin der whiteBOX, die sich vorgenommen hat, neben der whiteBOX auch andere Räume auf dem Gelände des Werksviertels zu bespielen.
Aber ja! Noch vor jeder Avantgarde hören wir da schon doch die Zukunftsmusik eines Bayerischen Symphonieorchesters in Zusammenarbeit mit musica viva im zukünftigen neuen Konzerthaus auf dem Gelände des Werkviertels! Das wird zwar noch eine Weile dauern, der Spatenstich ist erst nächstes Jahr, trotzdem kann „I Exist – nach Rajasthan“ als Startschuss, wenn es in diese Richtung gehen soll, gewertet werden.
Die whiteBOX hatte sich mit ihrer Einladung nach München eingereiht in eine Reihe von speziellen Partnern und Akteuren, als da wären – live auf der Bühne – Musiker aus den Reihen der Dresdner Sinfoniker und des NO Borders Orchestras aus Serbien, zusammen mit der Geigerin und Vokalistin Iva Bittová und den Roma-Musikern aus Rajasthan, Raju Bhopa (Gesang), Dayam Khan (Harmonium, Gesang) und Papamir (Dholak, Gesang). YMUSIC, wie Marc Sinan firmiert, fand als Produktionspartner das Ethnologische Museum Berlin, das Europäische Zentrum der Künste Dresden, Hellerau, das RADIALSYSTEM V, Berlin, die Rajeev Goenka Music Academy, Dundlod und die Jaipur Virasat Foundation, Indien.
Und zurück im Technikum schreitet jetzt die Perkussionistin und Vibraphonistin Maria Schneider aus dem Publikum auf die Bühne mit einem Signal-Doppelschlag auf eine Schelle Konzentration fordernd. Dem schließen sich die Musiker auf der Bühne an und in einer Rhythmik, die nach Bekanntmachung und Ritual klingt, steigen mit gehaltenen Akkordeon-, Querflöten- und Kontrabass-Noten Leitern auf, die das musikalische Material vorstellen. Himmelsleitern mit Rückblicksmöglichkeit.
Die Streckung der größer werdenden Intervalle weisen, ohne Dur und Moll zu entwickeln, auf atonale Strukturen. Gongs, gestrichene Klangschalen, Glöckchen, schwirrende, pulsierende Mikrotonalität dazwischen „versilbert“ die Rigidität des Aufstiegs. E-Gitarre, Cello und Bratsche unterstützen sonor das Video-Geschehen, das abwechselt zwischen Statements des britischen Künstlerehepaars und den Musiken der Roma. Die Komposition übernimmt ein Roma-Flötenduo vom Video, dazu Damian La Bas: „My whole Life has been a broken Jigsawpuzzle“.
Er sagt etwas von kosmisch schwirrenden Krebsen. Die raunende Kosmo-, Anthropogonie hat aber schnell ein Ende, Maria Schneider lässt die Episode mit massiven Metallaufschlägen zerplatzen. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, sagte Wittgenstein. Auch die Selbsterschaffung. So setzen Existenzfragmente, Töne wie tummelnde Aminosäuren sich wieder zusammen und in das Lebensgebräu schlagen die Blitze jäher atonaler Intervalle.
Dann kommt die Geigerin und Vokalistin Iva Bittová nach vorne. Im Duett mit Marc Sinan kommen von ihrer Stimme zwischen ihrem Balkanlied angeraute, „verschmutzte“ Töne, wie Doppelklänge, Multiphonics. Einmal schreit sie wie ein Kakadu aus dem fernen fruchtbaren Panjub. (Die Musikerin, Performerin und Schauspielerin spielt in klassischen und Folklore-Orchestern. Sie arbeitete schon mit Bill Frisell, Marc Ribot und Don Byron).
Es entstehen spontane Begegnungen zwischen Folklore, Klage und Moderne. Direkt und frontal anpackend. Auf den Videos erscheinen rote Trommler in Hitzebleichem Bildmaterial und die „Komprovisation“ mit ihren freien und aleatorischen Strukturen drängt wieder zur Auflösung. Irgendwann sitzen ebenfalls ganz in roten Gewändern die drei Rajasthanis Raju Bhopa, Dayam Khan, Papamir vorne an der Bühne. Der Moment wird ganz zu einer Würdigung ihrer Folklore. Raju Bhopa singt klar, metallisch nasal ohne kaum den Mund zu bewegen, aufrecht und ohne Bewegung, schön wie ein Falke, ein Horusfalke. Auf einem der Wandbehänge an der Bühnenrückseite steht: „…no matter what anyone says, we called ourselves Gypsies, the Egyptians.“
Auf der Videowand tummeln sich jetzt Hunderte von Tauben vor einem gelben kleinen Palastgebäude. Bodhisattwas, die Geister Erleuchteter? Der in der Hitze Rajasthans gebleichte kleine Palast überdeckt das Gesicht von Delaine. Es ist eine Sphinx, die uns jetzt anblickt. Vielleicht anblickt.