Der 29. Februar ist ein besonderer Tag. Es gibt ihn nur im vierjährigen Rhythmus in einem Schaltjahr. An diesem Tag Geborene altern, wenn man so will, formell langsamer.
Allerdings nicht, weil sie sich nach der Relativitätstheorie so extrem schnell bewegen, sondern weil sie eben nur alle vier Jahre Geburtstag haben. Ein besonderer Tag also. Und einen solchen erlebten wir auch im Technikum bei der „Meisterklasse“, einer Veranstaltung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks (BRSO) im Rahmen seines Education-Programms.
Die Preludes pour piano von Claude Debussy, voll von musikalischem Subtext
Komponist, Dirigent und Pianist Thomas Adès und Pianist Kirill Gerstein arbeiteten mit Sonja Uhlmann, Peer Waibel-Fischer und Anjulie Chen an berühmten Preludes aus den beiden Heften „Preludes pour piano“ von Claude Debussy.
In der Notation der berühmt berüchtigten Preludes, besser gesagt dazwischen, hat Debussy die Formfreiheiten des Komponierens in der Tradition seit dem Wohl-temperierten Klavier extrem weiter entwickelt. Seine Interpreten sind damit als Entdecker des Werks gewissermassen dem Komponisten – selbst Entdecker – gleich gestellt.
Die Vergegenständlichung des musikalischen Sinns und Gedankens bei diesen Preludes erfordert als Prozess jedesmal aufs Neue eine hochkonzentrierte Elastizität und ist mit der exakten Ausübung des Notationsreglements gar nicht zu leisten. Die Stücke sind nur entfernt vorhanden und voller gezielter Unschärfen. Manchmal hat man den Eindruck, wenn Thomas Adès und Kirill Gerstein korrigieren, dass der musikalische Gedanke geradezu superponiert ist von der Notation.
In den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts, Kosmos und Impressionismus
In den Jahren, in denen Debussy Anfang des letzten Jahrhunderts an den Preludes arbeitete, entstand Einsteins spezielle Relativitätstheorie mit dem Ende der Vorstellung von absolutem Raum und absoluter Zeit.
Und das Flirren des Impressionismus scheint dem Entdecker sagen zu wollen: trau deiner Täuschung. So kritisiert Kirill Gerstein bei der 14-jährigen Sonja Uhlmann im Intro von „Les collines d´Anacapri“ eine zu starke Gleichmäßigkeit.
Was unterstellt da Debussy alles in seinen Noten! Gleichzeitiges Zählen von 2 und 3 und diese Akzente kommen nicht aus derselben Richtung, sondern nähern sich aus der Gegenrichtung. Elastizität!
Die beiden Lehrer der Masterclass sind auch ein Gewinn für den musikalischen Laien
Zwei Konzertflügel stehen im Technikum nebeneinander und beide Lehrer greifen immer wieder ein. Stehend über die Klavierbank gebeugt, lassen sie die fragil-energischen Linien Debussys wie aus dem Ärmel flirren.
Das kann auch der musikalische Laie nachempfinden. Oder ist es Suggestion? Na, dann führt sie aber immerhin doch zum Gedanken des Stücks!
Wie wirken Triller aus 2 Noten, wenn sie Richtung Geräusch verschliffen werden sollten? Und immer wieder, dann auch bei Peer Waibel-Fischer, wie fängt man die flirrende Progression, das spanische Flair von „La sérénade interrompue“ ein?
Vielleicht die Tempi von rechter und linker Hand unmerklich auseinander driften lassen. Funktioniert, die Unschärfe bekommt eine seltsame Schärfe?
Dann spielt die 16-jährige Anjulie Chen das mysteriöseste Stück der „Preludes pour piano“, „La cathédrale engloutie“. Es bezieht sich auf die Legende von Ys mit seiner versunkenen Kathedrale und ihrem Gezeitenabhängigen Wiederaufstieg samt entferntem Glockenklang, Orgel und Kirchenchor.
Anjulie Chen spielt entrückt mit erhobenem Kopf, so eindringlich, dass den beiden Lehrern erst nichts einfällt und sie mit den Pianisten eigentlich nur diskutieren könnte. Doch, halt, hier diese Note, und da zeigt sich wieder der Humor und die charmante Bildhaftigkeit in den Formulierungen von Kirill Gerstein: Diese Note sei wie der Plopp in der Badewanne, wenn man den Stöpsel zieht. Von jetzt an steigt die Kathedrale.
Autor: Michael Wüst