Pianisten müssen ihr Instrument nicht mitbringen zum Konzert, darum werden sie manchmal beneidet, zum Beispiel von Kontrabassisten. Für Alain Roche gilt das nicht, er muss seinen umgebauten Flügel mitbringen, weil er den an einem Kran hängend kopfüber spielt.
Die Extrem-Performance mit hohem Spektakel-Faktor war schon einmal Ende Januar 2020 im Werksviertel-Mitte zu bestaunen gewesen, als er in seiner Komposition „Chantier“ über der Herzensmitte der Werksviertel-Kultur, dem Bauplatz für ein weit über München hinaus ersehntes Konzerthaus, am Flügel im Morgengrauen hinaufgezogen wurde bis zur Spitze des High-Rise-Hotels Adina, das gerade im Rohbau fertig gestellt war.
Martina Taubenberger, Kuratorin des Werksviertel-Mitte für die Kunst, hat es seitdem vor allem mit den drei Festivals „Out of the Box“ unnachgiebig unternommen, den lehmigen Platz der schlummernden Sinfonie selbst zur Bühne zu machen. Sie kreiste diesen Platz ein, besetzte die 27 Gondeln des Riesenrads mit einer 27-köpfigen Ausgabe des „Orjazztra Vienna“ von Christian Muthspiel und verwirklichte dessen Komposition „Riesenradoper Umadum“, arbeitete sich durch die Tiefgaragen darunter mit „Babel – Ballet of Signs“ (beides 2022) und deklarierte am östlichen Ende des Bauplatzes mit einem Konzert des Munich Composers Collective das gerade fertig gestellte Gebäude des WERK1 für künstlerisch inauguriert. Eine Kunstbeschwörung rund um den Bauplatz für ein neues Konzerthaus im Münchner Osten.
Seit dem 22.12.23, dem Tag der Wintersonnenwende (Solstitium, engl. Solstice), findet nun auf der Lehmbühne der schlafenden Sinfonie eine weitere Konzert-Performance von Alain Roche am aufgehängten Flügel statt. Und zwar bis zur Sommersonnenwende 2024, am 20. Juni, täglich zum Beginn der blauen Stunde, zum Sonnenaufgang im Morgengrauen. Eine frühmorgendliche Beschwörung der kulturellen Zukunft Münchens im Maßstab des planetarischen Zyklus, insgesamt 182-mal.
Der Charakter der Performance vor einem Publikum in 100 Liegestühlen liegt diesmal weniger im Spektakel als in einer in die Höhe des bläuenden Himmels gerichteten Meditation. Auch wenn man sich mit metaphysischen Deutungen der Natur zurückhalten sollte, es war schon fast beklemmend, wie das schlechte Wetter der ersten Tage den Set und das Publikum prüfte. Auch wenn einzelne Windstöße den in der Dunkelheit orangen leuchtenden Stimmstock des Flügels leicht drehten, Pianist, Publikum und Techniker trotzten dem Moment der vermeintlichen Wildnis. Im Vertrauen auf den Gang der Sonne? Auf den Gang der Münchner Kultur?
Was sich anhört wie Neo-Romantik, es wurde auch lanciert durch den kompositorisch angelegten Mix. Zum Spiel von Alain Roche lieferten 40 hochsensible Mikrofone, in ganz Bayern verteilt, in Echtzeit Geräusche der erwachenden Natur. Pablo Diserens vom Technikteam spielt dem Pianisten und dem Publikum via Kopfhörer zu, was die Natur so zu raunen scheint – auf der Zugspitze, in der Teufelshöhle Pottenstein, im Nationalpark Bayerischer Wald, bei Schloss Elmau, im Moor bei Bad Heilbronn oder sogar über Bayern hinaus auf dem Aletsch Gletscher in der Schweiz. Sozusagen ein akustischer Short Message Service des anbrechenden Tages.
Zehn Meter über dem Boden schlägt Alain Roche mit Oktaven an, die er mit Dreiklang-Arpeggien ausfüllt. Wasser gluckert, es grummelt und schiebt. Es staut sich. Das aber löst sich allmählich auf, das Dräuende der Geräusche und in den Crescendi am Klavier weicht unter dem aufgehenden Himmel Vogelstimmen. Manche Geräusche könnten auch maschinellen Ursprungs sein. Klemmt ein Windrad? Alain Roche macht Ausflüge in dissonante Akkorde und geht wieder zurück zu impressionistisch wirkenden Rückungen. Kein Zweifel, der Tag beginnt, der Himmel weitet sich, ein breites Band von Cirruswolken kündet besseres Wetter. Wir freuen uns auf ein warmes Frühstück. Und dass der Münchner im Himmel doch noch der bayrischen Landesregierung die göttlichen Ratschläge zustellt.
Seid Ihr neugierig geworden und wollt dieses ganz besondere Konzert live erleben?
Übrigens: Die Konzerte finden bei jedem Wetter statt, also warm anziehen! Für Decken und heiße Getränke ist gesorgt. Lediglich Sturm ist ein Grund für eine kurzfristige Absage.
Alle Termine und Informationen findet Ihr unter www.sunstill.de und unter https://werksviertel-kunst.de
Der Eintritt ist frei wählbar, meldet Euch jedoch vorab rechtzeitig an unter sunstill.de/termine/.
Autor: Michael Wüst