Gerade waren die längsten Nächte vorbei, da sind wir – befreit von Gänsen, Karpfen und Christkindlmärkten – in der TonHalle in eine Rocksaison 2023 schon vor dem Jahreswechsel gestartet. Trägerrakete: Kissin Dynamite. Die immer noch blutjunge Band brachte von der Alp mit ihrer siebten Studio-LP „Not the End of the Road“ eine wuchtige Kollektion von harten Felsen mit schillernden Einschlüssen von schwerem Metall mit.
Am Dienstag, 27. Dezember, war bereits eine halbe Stunde nach Öffnung die Halle total voll. Zum Nimbus, der den Gründerbrüdern Hannes und Ande Braun voraus eilt, kam noch ein reiches Programm. Schon ehrgeizig, auf der wirklich nicht kleinen Bühne der TonHalle vier Bands aufzubauen. So hörten wir leider nur noch die letzten Takte von League of Distortion beim letzten Song „L.O.D.“, mit letzten Tönen der kraftvollen Stimme von Anna Brunner, die Fans auch von Exid Eden kennen. Mal wieder schwäbische Pünktlichkeit unterschätzt.
Ab durch die Menge
Den Weg zum Fotografengraben bahnt man sich dann – durch ein sehr freundliches Publikum. Die gute Stimmung, für die League of Distortion gesorgt hatte, hält sich bis zum Auftritt von Formosa, die mit ihrem melodischen Hard Rock, in dem auch südstaatliche Idiome zu hören sind, noch einmal ein paar Scheite auflegen.
Die braucht man auch zum Bierbrauen, deshalb ist der Gitarrist mit dem plakativen Namen Nick Beer heute nicht dabei, denn der gelernte Braumeister konnte wegen eines dringenden Jobs aus Bochum nicht weg. Dazu gibt es ebenso plakative Mitmach-Refrains: „Fuck Up Your Liver“. Eine blonde Schöne ganz vorne am Gitter shaked ihre langen Haare in synkopischer, halbtaktiker Affirmation. Das ist dieses Feeling, das alle lieben: Rock steady.
„Finale Countdown“
Aber noch immer mussten die Fans auf Hannes Brauns Lockenpracht warten, denn Sänger Nils Molin von Dynazty, dem Co-Headliner der Tour, war genau der richtige, den „Final Countdown“ einzuzählen. Scheint so, dass er mit seiner durchdringenden Belt-Voice in den hohen Lagen bei Dynazty nach seinem Ausflug zu Amaranthe wieder glücklich „zuhause“ angekommen ist.
Alle heben die „Pommes Frittes-Gabel“
Dann ist es aber soweit. Dramatisch im Gegenlicht zeichnen die Jungs von der Alp neben dem thronenden Sebastian Berg, Neuzugang an den Drums seit 2021, Kontur und verkünden erst mal krisensicheres: „No One Dies A Virgin“. Die Halle bestätigt mit einheitlich hochgestreckten Armen. Das Dio-Geweih heißt übrigens weniger magisch auch „Pommes Frittes-Gabel“. Der Sound steht auf All In und die Texte sind bekannt, weil die ersten Songs von den Vorgänger-LP´s Money, Sex and Power (2012) und Ecstasy (2018) kommen, und so wird die TonHalle endgültig zum Stadion.
„What Goes Up“
Es dauert bis zu What Goes Up, bis die beiden Gitarren von Ande Braun und Jim Müller im Mid-Tempo ein erdiges Steady-Geflecht um die warme, kraftvolle Stimme von Hannes Braun bilden, die nie überanstrengt keift und von einer schönen Rauheit unterlegt ist. Das ist die Muttermilch einer Iron Maiden. Recke Udo Dirkschneider bot ihnen bereits den Support von U.D.O. an, da hatten Hannes und Ande noch nicht mal ihr Abitur und 2012, im Jahr des stimmungsvollen Six Feet Under begleiteten sie die Glam-Rocker Steel Panther.
In der Retro-Schleife
Auch wenn es Pop-Exegeten oft nötig haben, sich über Hair-Rock und 80ies-Retro lustig zu machen, bei genauem Hinsehen und Hinhören drängt sich einem die Vermutung auf, dass Entwicklungsfortschritte der Pop-Musik oft gerade einer Retroschleife entspringen.
Die Vitalität, Freude und das Können von Kissin Dynamite könnten dieser Band darin eine wichtige Rolle zuweisen. Auf jeden Fall haben sie uns in ein spannendes 2023 gerockt – which will not be the end of the road.