Eine wahnwitzige Idee
Mit der Umsetzung einer „wahnwitzigen Idee“ (SZ, 5.August), der „Riesenrad Oper Umadum“, ist es Martina Taubenberger zum Abschluss des dritten Festivals „Out of the Box“ gelungen, dem Bauplatz des neuen Konzerthauses ein Werk musikalischer Magie einzupflanzen, das noch lange nachklingen wird. Im Rund des Riesenrads, im 21. Jahrhundert anachronistisch wiedererstanden Symbol für Ingenieurskunst und Wirtschaftskraft aus den Zeiten der ersten Weltausstellungen, wirkt die Komposition von Christian Muthspiel und das Engagement zahlloser Mitwirkender wie ein pulsierendes Mantra in die Zukunft der Münchner Musikwelt. Wahnwitzig, wer es technisch für möglich hielt:
27 Gondeln drehen sich einmal in 15 Minuten um einen Mittelpunkt, in dem die Quelle der Kommunikation, ein WLAN-Access Point implementiert wurde, von dem die Musiker und Musikerinnen des Orjazztra Vienna nach innen und außen verbunden werden müssen. Das sind zweimal 27 Funkstrecken, deren Frequenzen sich vertragen müssen! Da hat die Firma CN Mediatec Unglaubliches geleistet. Nicht nur, dass der Sound für die Gäste in ihren Liegestühlen auf dem Baufeld glasklar und transparent und satt war, selbst das Monitoring für die einzelnen Musiker und Musikerinnen in ihren geschlossenen Gondeln hatte immerhin die Qualität eines „eher mittelmäßigen Tonstudios“, wie Christian Muthspiel bemerkte. Das wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen. Ein absolutes Highlight moderner Elektronik.
Die Identifikation des Elektrons und damit der Beginn des Electron Age datiert übrigens auf das Jahr 1897, als die Weltausstellung in Brüssel stattfand, dort wo heute die Europäische Union mit Rat und Kommission beheimatet ist – für 27 Staaten.
Zahlenmystische Spielereien!
Aber allein, was das Bühnenbild angeht, wenn man so ein Projekt angeht, da fällt schon ein spannendes Paradox auf: Der stählerne Koloss, Ausdruck einer klassischen Physik, die den Kosmos am Ende des 19. Jahrhunderts als de facto entschlüsselt behauptete, wird im Inneren ästhetisch bestimmt und technisch gesteuert mittels elektronischer Kommunikation. Eine Mikro–Makro-Spannung, die unser Zeitalter der Informationstechnologie beherrscht. Das in den Nachthimmel eintauchende Fahrgeschäft wirkt wie ein in die Höhe untergehender Antrieb aus den Zeiten Jules Vernes, smart gekapert aus der Zukunft.
Wenn die Instrumentalisten und drei Sängerinnen in den geschlossenen, beleuchteten Gondeln an Bord gegangen sind, haben sie vor sich ihre Noten und eine Stoppuhr. Ihre Einsätze sind markiert durch die Zeitwerte der Uhr, fortlaufende Takte und Einsätze sind zu einem „tickenden“ Rondo geworden. Es gibt keinen Blickkontakt, keine Möglichkeit sich irgendwo, irgendwie anzuhängen. Dafür hat man den Eindruck, das Musizieren in Co-Isolation sei geeignet verborgene Schätze zu heben. Ist gemeinsames Imaginieren eine Form der Kommunikation? Man glaubt das im Verlauf von drei 15minütigen Umdrehungen des Riesenrades auf einem Screen miterleben zu können, der die einzelnen Musiker und Musikerinnen im Splitting während ihrer Einsätze zeigt. In der Lebhaftigkeit ihrer Reaktionen, dem Zunicken des abwesenden Kollegen, vor und nach den Einsätzen spiegelt sich die ganz irre Dramatik einer selbstreferentiellen Komposition.
Das Riesenrad ruckt an mit den Startgeräuschen eines mechanischen Kolosses. Tuba und tief schnarrende Bassklarinetten bewegen aus dem Stillstand heraus. Christian Muthspiel infiziert zügig einen freien Raum, in dem der Organismus seiner Komposition wachsen soll mit Gesten der Modern Jazz Big Band. Flöten flirren, Trompeten künden, Kontrabässe integrieren in einem langsam, aber ohne Unterbrechung wachsenden Klanggebilde, das sich unnachgiebig stabilisiert, verdichtet. Die Synchronizität harter Akzente oder Breaks kann mit einem Dirigentenstab, der als Zeiger sich in einer Uhr dreht, nicht geleistet werden. Man denkt eher an Klänge nach den Prinzipien der Zellteilung. Dementsprechend umgeht Muthspiel auch das Heimkommen in heimeligen Akkord-Wohnanlagen. Die abstrakte Zeit bietet keine Haltestellen im All. Manchmal kommt man aber an stilistisch und melodisch bewährten Zitaten aus ferneren Tagen vorbei. Eine wunderbare Tenorsaxophon-Linie erwärmt die Erdlinge in den Liegestühlen kurz, aber lässt sie nicht weiter verweilen bei Coleman Hawkins oder Stan Getz – oder Andy Scherrer, mit dem Christian Muthspiel schon bei dem legendären Vienna Art Orchestra gespielt hat.
Das Riesenrad galt Martina Taubenberger in seinen informationslosen Umdrehungen schon wie ein Symbol der pandemischen ziffernlosen Zeit. Zeit ohne Information ist aber ein paranoider Virus. Die Komposition Muthspiels, die gerade die Messbarkeit der Zeit ins leere Herz des Riesenrads transplantiert hatte, produziert folgerichtig Widersprüchlichkeiten, zumindest Gegensätze. Sie weckt Assoziationen über einen Kampf im Inneren eines werdenden musikalischen Organismus. Einmal meint man den sarkastischen Spott des Tambourmajors im Kreisrunden der paranoiden Eingeschlossenheit Wozzek´s zu hören. Später kreuzen belustigt kerngesunde Landler-Themen, als wollten sie die Entscheidung zum richtigen Leben oktroyieren. Die Stimmen der drei Sängerinnen, Larissa Schwärzler, Lucia Karning, Anna Anderluh huschen in spitzigen Intervallen durch poetische Bruchstücke aus T.S. Eliots „Waste Land“ und Alessandro Baricco´s „Novecento“. Geflüstert, getuschelt, manchmal regelrecht zornig über das, was zu singen ist: „Alles wartet, nur kein Ende“.
Die Brocken aus den Menetekeln der Poeten reiben sich wie papierener Rollsplit im Muthspielschen Organismus, der aber doch Zug um Zug die Infektionen der Realität mit der Immunabwehr der künstlerischen Magie überschreibt. Seine Musik ist Anwalt des Lebendigen. Leben gefährdet die Gesundheit. Es muss eingegangen werden. Am Schluss, nach einem Spieluhren-artigen Thema, steht das Riesenrad mit einem heraldischen Bläserakkord. Man ist nicht daheim. Trotzdem: Großartig!