Mit „Babel – A Ballet of Signs“ ging Ende Mai die erste der drei Eigenproduktionen des diesjährigen Festivals „Out of the Box“ 2022 an den Start. Im dritten Untergeschoss einer Tiefgarage, die sich im Zuge der im Werksviertel-Mitte so beliebten wie identitätsstiftenden Sprachveredelungen „Autosaal“ nennt, entstand ein wundersames Meisterwerk des neuen Musiktheaters. Das Ergebnis der genreübergreifenden Produktion war ein Sternenmoment, der durch die Stockwerke hindurch leuchtete, ein Babylon, das ein Tor zum Himmel öffnete.
Ein Tor zum Himmel
Wobei das Wort genreübergreifend, wenn nicht falsch, so doch wenigstens ungenügend beschreibend für die Festivalproduktion ist. Die beteiligten Ensembles agierten beim „Ballet of Signs“ ineinander, allerdings ohne sich dabei begrifflich fassbar umzusetzen, sie gerieten nicht „Lost in Translation”, sie gingen nicht ohne Rest im Zeichensystem des anderen Genres auf. Zur vielköpfigen Mannschaft gehörten: Komponist Django Bates mit dem Bern Art Ensemble (Schweiz), die Trondheim Voices (Norwegen), das O/Modernt Kammerorchester (Schweden), das Tanzensemble Moving Borders, die Choreografin Ceren Oran, der Regisseur Axel Tangerding, der Lichtdesigner Rainer Ludwig und Rolf Steyrer für den Ton verantwortlich. Zugeschaltet auf Screens war der Gebärdenpoet Rafael-Evitan Grombelka. Das Libretto stammte von Martina Taubenberger und Axel Tangerding. Und selbst das Publikum und der Raum prägten die Produktion.
Der Eigensinn der Kunst, das Ringen mit Konzepten
Was die vitale Dynamik von Kunst ausmacht, ist ihre Fähigkeit oder auch nur ihr Reflex, sich der gesellschaftlichen expliziten Terminologie zu entschlagen. In der Bewegung des Prozesses bleibt die künstlerische Antithese zur Gesellschaft, quasi in Superposition zu politischen Aussagen. Wie Adorno sagt, ist die Kunst ein Gegenpol zur Gesellschaft, nicht direkt aus dieser herzuleiten. Im Prozess des sich Abstoßens, der sich fortwährend erneuern will, ist die gesellschaftliche Krise als eine Art Zittern der Gewichte und der Proportionen nur in der (Kunst-)Form fühlbar.

Out Of The Box 22, Babel – A Ballet Of Signs, Django Bates u.a., Autospeicher Werksviertel, Photo (c) Ralf Dombrowski
Der Körper ist der kürzeste Abstand
Festivals werden in der Mediendemokratie heute vorab mit den richtigen humanistischen Etiketten ausgezeichnet. Mit dem themaführenden Satz „Der Körper ist der kürzeste Abstand“ ist dem „Ballet of Signs“, diesem Ballett der Zeichensysteme, ein kritischer Impuls gegeben, der keine Anleitung oder Einordnung ist. Man denkt, der Satz muss irgendwo bei Foucault stehen. Vor dem geistigen Auge taucht der sterbende Richard III., dem auf dem Schlachtfeld von Bosworth von seinem Königreich nichts blieb, als die Länge seines Körpers. Bei Foucault lesen wir in späten Arbeiten Ende der 1970er(!) Jahre: “ …daß der moderne westliche Staat in einem bislang(!) unerreichten Maß subjektive Techniken der Individualisierung und objektive Prozeduren der Totalisierung integriert hat.” Spätestens mit der Pandemie der letzten Jahre ist für jeden eindringlich klar geworden, dass der Übergang vom Territorialstaat zum Bevölkerungsstaat längst vollzogen ist. Die politische Macht ruht im zentralen Begriff der Volksgesundheit mit seinen gefährlich ins Archaische durchgreifenden Konsequenzen des nackten Lebens. Die Begriffe Isolation und Inklusion sind damit natürlich verwandt.
Die stehende Luft der Isolation
Das „Ballet of Signs“ beginnt mit einem schweren Schlag der großen Basstrommel mit einer minimalen Vorhalte, das heißt der Schlag kommt aus der Bewegung, er ist unmerklich fast herangerollt, der Big Bang ist ein Big Bounce. Der Raum ist ausgedehnt, der Klangraum gestreckt. Aus diesem Raum erscheinen Luftgeister als Boten wie Ariel in dreifacher Gestalt. Die Tänzer, Jin Lee, Jihun Choi, Uwe Brauns sind vor dem Bern Art Ensemble mit dem Dirigenten und Pianisten Django Bates gelandet und verkünden mit ihren Bewegungen Sätze der Gebärdensprache. Es ist vielleicht die Stenografie einer lautlosen Ouvertüre. Schon vorher sendete Rafael-Evitan Grombelka von Screens an den Außengrenzen des Publikumsbereichs stumm.
Getanzte Gebärden
Gegenstand der Gebärdentexte sind laut Martina Taubenberger, der Organisatorin des Festivals und Axel Tangerding, dem Regisseur, Texte oder Textteile von T.S. Elliot, Wallace Stevenson, Pablo Neruda und Alessandro Baricco sein. Basierend auf dem ins Gestische transformierten Textmaterial hat Ceren Oran nach Beratung von Kassandra Wedel Choreografien geschaffen, die wie ein Rosettastein schillernd gedreht werden, Zeichen in Fluss bringen, semantische Zuordnungen verzerren und Bedeutungen opak werden lassen. Das ist nichts anderes, wie eingangs mit Adorno angedeutet, der künstlerische Prozess: Es entsteht Entropie – Unordnung.

Out Of The Box 22, Babel – A Ballet Of Signs, Django Bates u.a., Autospeicher Werksviertel, Photo (c) Ralf Dombrowski
Drei Orchester tanzen fantastische Musik
Aus dieser Entropie tauchen Django Bates und das Bern Art Ensemble mit unbändiger Spielfreude und entschiedenen Akzenten auf. Kreatürlicher Tanz, Ursprungs-Bounce. Der abgestandene Hall der Isolation hat keine Chance. Streicher und schwere Trommel konturieren den schwierigen, stehenden Raum wie Fächer, die mit einem Knall aufgeschlagen werden. Es ist etwas Kubistisches in diesen ersten Klängen. Jede dieser Flächen, die von den Streichern herausgeschnitten wird, wirkt wie ein Spiegel, in dem wir die Umrisse des dissonanten Bruders zu erkennen glauben. Man ist sich ganz nah. Die Dissonanz kippt aber immer wieder hinab und bleibt: stumm. Man spürt sie nur. Das ist ungeheuer aufregend, es rockt richtig. Die Akzente überschreiten und entfernen sich von der Taktmauer. Sie rütteln. Der Dirigent wirkt, als zöge er ein ganzes Spiegelkabinett wie eine Tinguely-Maschine hinter sich her durch den Raum. Er verliert keinen Splitter. Allein dieser Beginn ist der Exorzismus eines Gespensts der Isolation.
Weiße Kittel wie aus der Klinik
Um diesem Beginn nicht die Kraft zu nehmen und in eine Inflationsfalle zu tappen, wandelt sich unter den beflissenen und expressiven Einflüsterungen der tanzenden Luftgeister die Szene zu einer abkühlenden Inflation der wunderbaren Stimmen der Trondheim Voices, die den Publikumsbereich einhegen. Mit ihren weißen Kitteln wirken sie wie aus einer Klinik der Utopie. Leiterin Sissel Vera Pettersen dirigiert die atmenden Klänge mit Handbewegungen und zieht ihren Kolleginnen eine lange Nase, wenn die Resonanzen enger werden sollen.
Ein poetischer Schluss in einer kühlen Zeit der Utopie
Ja, wir sind in einer kühlen Jahreszeit der Utopie. Doch schon sind Musiker des O/Modernt Kammerorchester zu Späßen aufgelegt, sie entführen den Vibrafonisten samt Instrument. Während der in der Luft auf den Leitungen der Sprinkleranlage weiterspielen will, scheint auch in der warmen Stube des Bern Art Ensembles gefeiert zu werden. Die Geiger lachen sich walzerselig zu. Der Bounce ist jetzt schunkelig, doch auf der anderen Seite des Raumes spielt ein Altsaxofonist avantgardistische Verrenkungen zu solchen der Luftgeister. Plötzlich ist die Luft von Zischen erfüllt, der Wind faucht durch eine aufgerissene Tür. Die Trondheim Voices erinnern daran, dass die Natur (noch) da ist. Oder das Nichts?
Die Ambivalenz des Nichts
Kari Eskild Havenstrøm singt aus Teilen eines Gedichts von Wallace Stevens, The Snow Man. Das sind erste Worte der gesprochenen Sprache. Aber sie sind gesungen. Was schon einen Unterschied ausmacht. Ein Fazit oder eine Quintessenz ist von dem Gedicht nicht zu erwarten, es entzieht sich dem Begriff. Mehrfach singt sie: Behold – means: see clearly. Der Dichter spielt mit der Ambivalenz des anwesenden Nichts und des Abwesenden. Aber es ist eine Fluktuation. Sie ist unsichtbar für uns. Aber man kann davon singen!
Das Festival Out of The Box geht weiter. Im Juli folgt die Aufführung von The Human Touch. Im August freuen wir uns auf die Weltpremiere der Riesenradoper Umadum. Mehr Infos und Tickets (Zum frei wählbaren Eintrittspreis) gibt es unter outofthebox.art