Seit einigen Jahren ist die Architektin Natascha Küderli auch auf den Gebieten der Fotografie und des Films künstlerisch tätig. 2016 produzierte Küderli, die Mitglied der Ateliergemeinschaft whiteBOX im Werksviertel-Mitte ist, ihren vielfach ausgezeichneten Film „Berlin – layers of movement“*. Kameraführung und Schnitt des Films entsprechen dem architektonischen Ansatz Schienen, Straßen, Wasserwege als die Blutgefäße und Sehnen des Stadtkörpers aufzufassen. „Berlin – layers of movement“ zeigt eine komplexe, sich überlagernde und kreuzende Mobilität, die den Blick des Zuschauers an der architektonischer Kulisse vorbei auf die zügigen Fließgeschwindigkeit der Moderne richtet.
„München – Seele einer Stadt“, das neue Filmprojekt
Nun soll es einen weiteren Stadtfilm geben: „München – Seele einer Stadt“ heißt das Herzensprojekt, das Natascha Küderli seit 2017 in sich trägt. Zurzeit steckt sie mit ihrem Team noch in der schwierigsten Phase des Projekts, der der Finanzierung. Eine umfangreiche Website besteht allerdings bereits (www.nataschakuederli.com), ebenso wie ein sehr schöner Katalog (für direkte Nachfrage, info@nataschakuederli.com). Für die Finanzierung dieser Vorarbeiten hatte Küderli 2017 einen Kampagnenpreis des ersten Münchner Crowdfunding-Wettbewerbs erhalten.
Wie bei „layers of movement“ gilt für die „Seele einer Stadt“ das Spannungsverhältnis des fotografischen, starren Moments im Übergang in den Fluss des Films als ästhetisches Prinzip. Außerdem hat Natascha Küderli eine Reihe von Stadtpersönlichkeiten** in öffentlichen Funktionen eingeladen, über ihre Stadt zu sprechen, um aus dem Gewebe der verschiedenen Aufgabenbereiche von Politik, Medien, Religion, Sport und Sozialem ein vielschichtiges Bild zu erzeugen. Dabei stellen sich die Protagonisten seltsam anmutenden, aber kreative anregenden Fragen wie: „Was denkt München über sie? Was will München von ihnen?“
Was will die Stadt von uns?
Wir unterhalten uns mit Natascha Küderli in ihrem Atelier in der whiteBOX-Ateliergemeinschaft. Was ist überhaupt Stadt? Die Frage ist so komplex, dass die weitergehende Frage nach der Seele einer Stadt aberwitzig erscheint, wenngleich genau sie Generationen von Theologen, Philosophen und Künstler magisch angezogen hat und zu vortrefflichen Ergebnissen geführt hat. Man denke nur an „München – Geheimnisse einer Stadt“ von Michael Althen und Dominik Graf oder „Himmel über Berlin“ von Wim Wenders mit den genialen Texten von Peter Handke. Auch Fellini ist mit „La citta delle donne“ und „Roma“ ein Stadterzähler wie Pasolini mit „Mamma Roma“. Michail Bulgakow beschrieb in „Der Meister und Margarita“ einen Stadtplan Moskaus anhand eines teuflischen Plots, Charles Beaudelaire beschwor in den „Fleurs du mal“ die zukünftigen Ruinen, die er hinter den Fassaden des Paris von Napoleon III. bereits sah. Robert Musil behauptete in „Der Mann ohne Eigenschaften“, dass man eine Stadt, nur im Bett liegend an ihren Geräuschen erkennen könnte und Paul Wühr erbaute „Gegenmünchen“ neu in den Topografien seines Bewusstseins.
Das Vergangenste ruht neben der Vergangenheit in den Städten des bürgerlichen Antike-Faibles
Kunstwelt ist Stadtwelt. Ein kleiner Gedankenausflug und schon streift man im Gespräch die Fittiche der Poesie, man taumelt in die Traumwelt der Stadt, Gegenwart und Vergangenheit verweben sich zu einer ganz unhistorischen Erzählung, man fliegt durch die Zeiten und durch die Straßen mit schwer leserlicher Karte. Man stürzt ab, wie der Engel über Berlin. Die ganze Stadt ist Text an jeder Stelle, alles. Geschichtlicher Text, Spuren jedes einzelnen Menschen, gleich welchen Ziegel man betrachtet. Vielleicht stammte ja ausgerechnet jener Stein aus den Fabriken im Münchner Osten, wo die zahlreichen italienischen „Loampatscher“ in Herbergshäusern lebten und woher der Stadtteil Laim seinen Namen hat?
Kunstwerke von Natascha Küderli
Die Stadt als Traumgewebe
Städte sind Meister der Kulturbevorratung. Karl Valentin beispielsweise ist als Niemand gestorben, seine Kunst jedoch war bereits inventarisiert. Seit Paris, „Capitale du monde“, und seinen Ausstellungen der Welt, beschleunigt sich in den industriellen Konsum-Passagen die Umprogrammierung des vital kreativen Subjekts auf den Inventarcode seiner gescannten oder gestreamten Erlebbarkeit. Und der Künstler? Machte sich auf den lange Weg vom Beauhèmien zum Soloselbstständigen. Wie kann man also heute noch die Geschichte einer Stadt erzählen? Um das historische Schwindelgefühl des 19. Jahrhunderts, das Zeitgenossen befiel, nachzuvollziehen, empfiehlt Schopenhauer, Herodot mit der Morgenzeitung zu vergleichen. Und Walter Benjamin: „Wer eine Stadt betritt, fühlt sich wie in einem Traumgewebe, wo auch einem Geschehnis von heute das Vergangenste sich angliedert.“ Und wer kann überhaupt die Geschichte einer Stadt erzählen? Niemand. Es ist die Frechheit des Odysseus, der Polyphem mit ebendiesem Pseudonym narrt und dadurch seine Freiheit erlangt. Niemandes Erzählung erzählt die Stadt. Und doch ist sie vorhanden. Was kann spannender sein?
* 2019 West Europe International Film Festival Brussels – Winner Best Experimental Film /2016 Int. Filmmaker Festival Berlin – Winner Best Director of a Short Documentary /2016 Worldfest Houston – Winner Gold Remi Film & Video Art /2015 London Film Awards – Winner Best Experimental Film/2014 Best Short Competition – Winner Award of Merit
** Bisher zugesagte Protagonisten:
Josef Schmid: Abgeordneter im Bayerischen Landtag
Christine Strobl: 3.Bürgermeisterin a.D. der Landeshauptstadt München
Hubertus Andrä: Polizeipräsident, Polizeipräsidium München
Pfarrer Rainer Maria Schießler: Katholische Kirche, Sankt Maximilian
Imam Benjamin Idriz: Vorsitzender des „Münchner Forum für Islam e.V.“
Rabbiner Steven Langnas: Vorsitzender des „Münchner Lehrhaus der Religionen e. V.“
Nina Burlac: ehemalige Prostituierte
Mojtaba Rahmani: Iranischer Flüchtling
Dirk Schuchardt: ehemaliger Obdachloser, Verkäufer der Biss-Zeitung
Gabi Steffe: Stellvertretende Pflegedienstleitung
Dr. med. Bernd Birkner: niedergelassener Gastroenterologe
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin: Professor für Philosophie, Staatsminister a.D.Bildung
Johanna Hofmeir: www.lichtblick-hasenbergl.org Bildung
Beatrix Zurek: Stadtschulrätin, Leiterin des Referats für Bildung und Sport
Flavia Maria Resch: Eisbach-Surferin, Studentin an der Kunstakademie
Michael Franke: 1. Vorsitzender des FT München-Gern e. V. Kunst
Miguel T. Sozinho: Tanzlehrer/Veranstalter, www.streetlove.net Kunst
Max Wagner: Geschäftsführer Gasteig München GmbH
Clarissa Käfer: Geschäftsführerin der Käfer AG
Gisela van Riesen: Geschäftsführerin von Stand Nr. 5 auf dem Viktualienmarkt
Franz Xaver Peteranderl: Präsident der Handwerkskammer München
Susanne Hermanski: Leiterin Kulturredaktion SüddeutscheZeitung (München & Bayern)
Dr. Dirk Ippen: Münchener Zeitungs-Verlag GmbH & Co.KG
Prof. Dr. Elisabeth Merk: Stadtbaurätin der Landeshauptstadt München