Für den 18. März kündigen Monika Supé und Sinan von Stietencron ihre Ausstellung „Teilhabe“ in der Galerie Bezirk Oberbayern an der Prinzregentenstraße, schräg gegenüber vom Haus der Kunst an. Der Aufbau ist geschafft, alles ist bereit: der Bezirkstagspräsident Josef Mederer wird begrüßen, die Philosophin Karin Hutflötz die Künstler vorstellen, Stefan Blum mit Percussion unterhalten.
Die Ausstellung ist lebendig konzipiert, Ruth Lobenhofer bietet eine Tastführung an und die Leiterin der Galerie Dorothee Mammel moderiert. Doch dann muss erst die Eröffnung, dann auch der laufende Betrieb aus bekannten Gründen abgesagt werden.
Eine tolle Idee im Lockdown
Sinan von Stietencron, Mitglied der Ateliergemeinschaft whiteBOX, wirft die Flinte nicht ins Korn und schlägt vor eine virtuelle Führung mit der neuen Videokonferenz-Technik des Corona-Überfliegers „Zoom“ zu erstellen. Zoom ist in den Monaten des nationalen Lockdowns zum Marktführer für Videokonferenzen und jede neue Form von Screen Sharing, zum Beispiel für Webinare geworden. Demnächst wird Zoom Facebook und Google angreifen und außer Unternehmen vielleicht mittels Telefonie die neuen kreativen Arbeitswelten der zukünftig hippen Home-Offices gestalten.
Stietencron ist Künstler, Philosoph, Medientechniker
In der Arbeit und über die Erfahrung seiner „Prozess-Ontologien“ hatte von Stietencron, auch als Autor für Prozessphilosophie tätig, bereits seit 10 Jahren daran gearbeitet, kreative Prozesse selbst zum Ausstellungsgegenstand zu machen. So ist mit der virtuellen Führung durch die Ausstellung „Teilhabe“, die am 8. April für 40 Teilnehmer, die sich für den Chat angemeldet hatten, stattfand, eine sehr gelungene Arbeit entstanden, über die gezeigten Objekte hinaus. Die Führung ist noch hier zu sehen.
Momentan hoffen die beiden Künstler, dass die Ausstellung am 23. Juni regulär für physischen Humanbesuch geöffnet werden kann.
Zwei Künstler, die mit Draht von der Fläche in die Dreidimensionalität aufbrechen
Die Künstler waren von der Galerie nominiert worden. Ein Grund ausgewählt zu werden, liegt sicher darin, dass beide von der Graphik, vom Zeichnen kommen. Im besonderen, und das ist entscheidend, beschäftigen sich beide damit, von der Fläche in den Raum zu kommen – Arbeiten herzustellen, die sich wie eine Protraktion aus der zweiten Dimension in den Raum erheben.
Im Raum angekommen, behalten die Arbeiten auf eine interessante Weise eine Spannung zu ihrer zweidimensionalen Herkunft. Fragil, oft von einer Eleganz des Instabilen, wirken die Arbeiten als würde die Heimat-Fläche in Drehungen und unter verschiedenen Blickwinkeln bestrebt sein, die entfleuchte Raumerscheinung zwischen Buchdeckel zurück zu saugen. Manche der Drahtarbeiten scheinen wie Visualisierungen von Klängen impressionistischer Musik, wie Schwebungen, Flageolets, gehaltene Momente.
Architektin und Raumgestalterin Monika Supé häkelt Draht exzeptionell
Das gilt besonders für die Hauptarbeit „Ummantelung“ von Monika Supé. Die Professorin für Raumgestaltung hat in Kaiserlautern über visuelle Wahrnehmung promoviert und in München vorher Architektur studiert. Sie hat als hauptamtliche Zeichnerin immer Lust verspürt, in den Raum hinaus zu schraffieren, durch Schatten Raum aufzumachen.
„Ummantelung“ ist eine aus Draht gehäkelte kreisförmige „Decke“, ein metallenes Tuch mit einem Durchmesser von 3 Metern. Die einzelnen Zellen des Häkel-Netzwerkes erlauben im Ganzen eine erstaunliche Flexibilität, eine Weichheit fast, die das Metall trotzdem spüren läßt. Zusammenknüllen oder zusammenfalten ließe sich das metallene Tuch nicht. Mit seiner innewohnenden, intrinsischen Materialeleganz fordert es, in den Raum geworfen zu werden, um Weite zu nehmen oder um einen Körper geschlenzt zu werden. Es steckt voll gestischer Dramatik.
Die Tänzerin Katja Quitte hat mit der „Ummantelung“ bereits in Performances gearbeitet. Hoch und an mehreren Fixpunkten aufgehängt, wirkt das metallene Netz wie die entfremdete, protrahierte Darstellung einer Raumzeit oder des gekrümmten Raums aus einer Computergrafik. In einer gewissen Radikalität erscheint die Arbeit befreit – vom flachen Land, vielleicht sogar von der Imaginationen des Künstlers, geronnen in den Versunkenheiten, in der Meditation gehäkelter Zeit.
Stietencron erforscht Gesichter, erfühlt Visionen einer kunstgeschichtlichen Fazialität
Weiter durch den Ausstellungsraum – unter den Fragen der Gäste im Chat und immer übersetzt in Gebärdensprache von Susan Schmidt – kommen wir zu einem Drahtgesicht von Sinan von Stietencron.
„La Madonnina“ gibt sich historisch zu erkennen durch eine Stufenartig anmutende Krone des Hochmittelalters. Die Figur, geformt „aus einem Strich“ mit vier Millimeter dickem Draht, fordert dazu auf, sie in mehreren Blickwinkeln zu umkreisen. Die Stirn-Nasen-Lippen-Linie fungiert im Profil als Frontansicht, wie man das von Picasso-Köpfen kennt.
Die Gesichtsausdrücke changieren zwischen Demut und einem gewissen Trotz namentlich gegenüber der Engelsverkündigung, jenen Jesus zu empfangen, der 37 Jahre später neben Pilatus mit `Ecce Homo´ zum Ausdruck brachte: Erkenne im Antlitz dieses Menschen den sterblichen Gott!

München, 28.1.2019 / Foto: Robert Haas Sinan von Stietencron, Künstler und Philosoph, mit Atelier im Werksviertel
Peter Sloterdijk läßt in Sphären, Band I (Zwischen Gesichtern, Seite 164) den Kulturwissenschaftler Thomas Macho verdeutlichen: (zitiert nach Sloterdijk) „Das jesuanische Ecce homo würde vor diesem Hintergrund bedeuten: Erkennt in diesem Lebenden den, der nach seiner Tötung der Gott sein wird.“ Und weiter (ibd), worin auch Stietencrons Interesse für die neuen Gesichter liegt: die faziale Wandlung der Neuzeitmadonnen besagt: „hinter jedem neuzeitlichen Portrait verbirgt sich das Ecce-homo-Gesicht der Menschenbloßstellung…“
Denn das interessiert Stietencron: Der Ausdruckswandel von der statutarisch thronenden Gottgebärerin (Theotokos, Konzil von Ephesos, 431 n.Chr) mit dem ebenfalls seiner transzendentalen Repräsentationspflichten bewußt verklärten Jesuskind zum novellistischen Urszenencharakter der Renaissancemadonnen, die plötzlich sogar mädchenhaft werden dürfen.
Im Video zeigt er dazu eine Madonna von Fra Fillipo Lippi (1406-1469), die Schnitzerei eines unbekannten Meisters „Nostre Dame de grasse“ sowie ein Verkündigungtryptichon von Simone Martine (1284-1344). Mit den neuen jungfräulichen Madonnen der Renaissance, die davon ablenken, dass die Frucht ihres Leibes im gefürchteten weiblichen Inneren mit seinen mutmaßlichen Menstrualblutkreisläufen entstanden ist, bricht sich ein individualistischer, novellistischer Gesichtsausdruck Bahn, der sich von der katholischen Passion und der orthodoxen Verklärung befreit.
Hinter dem neuzeitlichen „Wahrnehmungs-Imperativ“ (Sloterdijk) leuchtet das christologische Ecce homo und heiligt und durchleuchtet die Mittel und Spiegelungen des privaten, individuellen Ausdrucks. Mit dem sakralen Hintergrund des `Sehet-welch-ein-Mensch´ rechtfertigt sich der neue Blick aufs gesellschaftliche Gesicht, eine neue piktorale Vision, die bis in die Moderne reichen wird. Wie Sloterdijk so schön formuliert: „Jedes Portrait zeigt ein Gesicht, das dazu bestimmt ist, andere zur Anerkennung seiner Singularität herauszufordern.“ (Sphären, Band I, Seite 165).
Die Ausstellung, die hoffentlich ab 23. Juni in vivo besucht werden kann und die dann bis 30. September verlängert ist, steckt auch sonst noch voller gedanklicher Reize. Im Atelier von Sinan von Stietencron unterhielten wir uns noch angeregt über die physikalische Chimäre der Zeit und die Frage: Ist der Kosmos selbst Mathematik oder ist diese Sprache nur ein Modell ihn zu entdecken?
Die Transzendenz, der Weltgeist, die Angebote des Kosmos, sich und uns zu entdecken? Aber für Fragen der Quanteninformation würden wir uns gerne noch ein bisschen vorbereiten, um dann mit Sinan von Stietencron, darüber noch einmal bei einem extra Termin ein Gespräch zu führen.
Autor: Michael Wüst