Seit Samstag, 15. Februar, ist in der whiteBOX die Ausstellung „There might a place for hummingbirds“ mit dem Thema Guatemala zu sehen. Die kleinsten Kolibris, wie der nur 5cm große Bee Hummingbird, entzückten mit ihren Schwirrgeräuschen alte Völker, sowie uns vielleicht die Klingeltöne der ersten Handys.
In Belize, dem Nachbarstaat von Guatemala, gibt es den Hummingbird Highway. Eine Ausstellung für Guatemala? Nur indirekt. Die Themen der 14 beteiligten Künstler im Begleitheft der Kuratorinnen Çağla Ilk und Antje Weitzel lassen keinen Zweifel zu: Nicht um eine farbenprächtig folkloristische Schau lieber Indigener geht es hier, sondern um Spuren, Narben des Kolonialismus, von Migration und rassistischer Repression.
„Traurige Tropen“, das Buch von Lévi-Strauss beeinflußte in den 1970er Jahren
Und es geht wohl auch darum, was Claude Levi-Strauss, der Vater des Strukturalismus, der der Armchair-Philosophie und – Ethnologie nach Brasilien entfloh, in „Traurige Tropen“ schrieb, um in den 1970er Jahre der westlichen Welt erste Augen zu öffnen:
„Was mich betrifft, so war ich auf der Suche nach dem, was Rousseau‚ die kaum merklichen Fortschritte der Anfänge‘ nennt, bis ans Ende der Welt gegangen. … [dann] glaubte ich, diesen Zustand bei einer im Sterben liegenden Gesellschaft entdeckt zu haben […] Doch sie war es, die sich mir entzog. Ich hatte eine auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierte Gesellschaft gesucht. Die der Nambikwara war so einfach, daß ich in ihr nur den Menschen fand.“ (Traurige Tropen, S. 314)
Dokumente, behördliche und solche des Lebens, skurrile Trouvaillen um eine starke Skulptur in der Mitte des Raums
Die Linienführung der didaktischen Ausstellung beginnt neben dem Eingang mit einem Grabstein und fährt an den Innenseiten der whiteBOX entlang. Dort reihen sich Dokumente, Namenslisten, Fotografien, Videos, Werbung, Marken, Gebrauchsgegenstände, Embleme und Symbole und kreisen eine Skulpturengruppe ein, in deren Zentrum eine menschliche Figur, aus der Kakaopflanzen herauswachsen, erhängt ist.
Das Material des menschlichen Fleisches, auch in seinen zusammengesackten Anhäufungen wirkt künstlich wie geklontes humanoides Analogfleisch. („Linnaeus In tenebris“, 2017, Naufus Ramirez-Figuera) In tenebris ist ein Synonym für die Tiefen der absoluten Hölle, „Domine ex tenebris clama te“.
Kakao entdeckten die Portugiesen auf der Suche nach Gold vor der afrikanischen Westküste und errichteten für die industrielle Ausbeutung auf São Tomé (St. Thomas) erste Arbeitslager für Sklaven.
Das Verschwinden der kulturellen Identität der Indigenen
Der Grabstein am Eingang, unter dem kein Mensch liegt, sondern „nur“ seine dokumentarische Identität und eine endlos erscheinende, sich am Boden stauende Liste der Umschreibung alter indigener Nachnamen zu kolonialen, spanischen, sind von Marylin Boror (Edicto Cambio De Nombre, 2018).
Der Grabstein bekundet: aus Marylin Elany Boror Bor wurde Marylin Elany Castillo Novella. Die neu angenommen Name die Reichsten Guatemalas. Der Novella-Clan beherrscht die guatemaltekische Bauindustrie.
Das ist stark pointiert, trägt aber der Beobachtung Rechnung, dass Migranten, die Namen in der Sprache der Maya-Kaqchikel tragen, sich vorauseilend ins Spanische umschreiben lassen, wenn sie in die Stadt wechseln.
Ganz ähnlich die Strategie von Edgar Calel gegenüber in der anderen Ecke der whiteBOX: Das Material seiner Arbeit (Yo Vivo En Ti, Tu Vives En Mi, 2010) sind auch Dokumente. Geburtsurkunden. Neben dem Grabstein, vielleicht das einzige, was von einfachen Menschen jenseits der Familienerinnerung bleibt. Dabei geht er drastisch und symbolisch vor.
Aus den Geburtsurkunden seiner Familie und von Freunden hatte er in der Mitte die jeweils gleiche Silhouette eines Häuschens ausgeschnitten und diese Häuschen auf der gegenüberliegenden Wand zu einer netten Siedlung arrangiert. Mit Blick zurück auf die maltraitierten Geburtsurkunden, wirken diese, als wäre ihnen ein Herz herausgerissen. Sehr einfach und sehr einleuchtend.
Der Begleittext der Ausstellung, der für den in Lateinamerika überall anzutreffenden Raubbau auch den Begriff Extraktivismus (Neo-Extraktivismus) gebraucht, führt uns zu dem Bild des seelischen Extraktivismus. Die Formulierung Levi-Strauss´ taucht wieder auf von den brasilianischen Nambikwara: in Vertretern dieses sterbenden Stamm erblickte nichts als den Menschen, das nackte Leben.
Die Formulierung entfaltet in ihrer Einfachheit nackten Horror. Der von seiner Kultur und seiner Naturerzählung, seiner Kosmologie entkleidete Nackte ist nicht der gute Wilde der imaginären Ethnographie unserer romantischen alternativen Bewegung der 1980er Jahre, er ist „in tenebris“. Er wartet auf die Nummer.
Die imaginäre Ethnografie der überlagernden westlichen Gesellschaft
Zu einer verwandten Diagnose kommt Ervin Alarcón Lam (Rainbow Flags Study, 2018) mit einer sozusagen epistemischen Guerilla-Technik: Sein Interesse galt der Verwendung der Regenbogenfarben in Emblemen und Flaggen, was er in Beispielen an der Wand veranschaulicht.
Die in den 1970er Jahren im Zentrum von Cusco gehisste Regenbogen-Fahne, entworfen von dem Radiomoderator Raúl Montesinos Espejo, entspricht der Wiphala-Fahne einer indigenen Widerstandsgruppe und wurde zur zweiten offiziellen Fahne Boliviens. Zugleich zieht nun die Fahne – und wir geben das folgende Wortmonster wie im Begleittext wieder – LGBTQI* Tourist* innen an, die darin ihr Symbol erkennen.
Beim Hinausgehen fallen die Fotografien von Regina José Galinda (Prescencia, 2017) auf. Die Bilder, die sie in den Kleider ermordeter Frauen zeigen, sind streng und gänzlich unpathetisch.
Das Geheimnis des individuellen ästhetischen Prozesses ist unberührt und unabhängig von Erklärungen. Etwas an diesen Bildern ist nicht erklärbar. Es geistert lange in den Vorstellungen und sucht einen Ort – der Einordnung. Nur ein Schwirren der Kolibris.
Autor Michael Wüst