Wer steht schon um fünf Uhr in der Früh im Winter auf, um vor die Haustür in die Stadt auf dunkle, nasse Straßen zu gehen, wenn er weder zur Frühmesse will noch einen Job auf der Großmarkthalle hat?
Da muss es einen anderen ganz besonderen Grund geben. Den gab es auch mit „Piano Vertical“, dem zweiten in der Reihe der extrem spektakulären Kunstevents des Festivals Out Of The Box.
Was bringt 200 Leute dazu, sich um 6:30 Uhr auf einer dunklen Baustelle in klamme Liegestühle zu setzen?
Baustelle Werksviertel-Mitte. Noch ist die Baugrube für die neue Konzerthalle nicht ausgehoben. Es ist Ende Januar. Selbst in diesem milden Monat um diese Zeit frisch genug, um keine Lust auf eine Baustelle mit naßem Lehmboden zu haben.
Der Himmel sieht aus wie eine Asphaltdecke mit bläulichen Rissen, zwischen Schutt-Containern und Bauwägen ragt ein eleganter, unnahbarer Kran in Graublau, davor stehen etwa 200 Liegestühle mit rostrotem kühl-feuchtem Stoff. Hat die Münchner Schickeria eine neue Strandidee kreiert? Es gibt Decken und heißen Tee. Man setzt sich in einen der Liegestühle und steckt den Kopfhörer an.
„Like Ice in the Sunshine“ wird ja wohl nicht kommen. Gibt´s was neues von „Einstürzende Neubauten“. Kommt jetzt gleich FM Einheit mit seinem alten Preßluftbohrer um die Ecke und bohrt ein Solo in den Boden?
Gerne kündet Nebel im Rockbusiness den Auftritt an. Zwischen den Bauwägen steigt er jetzt auf, vielleicht ist einem Bauarbeiter auch das Frühstück angebrannt. Da kommt mit getrillerten 3er Dur-Akkord ein Flügel geflogen und setzt sich nieder…nein, kommt jedenfalls in fünf Metern Höhe auf die erste Reihe der Frühaufsteher in den Liegestühlen zu, schwenkt fast ein bisschen bedrohlich grüßend hin und her. Mit dem Kopf nach unten spielt Alain Roche freundliche, chansonartige Linien. Der offene gut ausbeleuchtete Flügel schwebt, pendelt.
Der Groove der Baustellen-Sounds schiebt die Choreografie des schwebenden Flügels
Im Hintergrund starren die Fenster des WERK1 neben der Aufschrift „VIELFALT“. Lichtblitze und scharfe Intervalle auf dem fliegenden Flügel bringen Bausellen-Sounds herein, Schleifen, Klirren, aufschlagende Bässe. Der Flug der Komposition „Chantier“ von Alain Roche hat begonnen.
Für die Baustellenklänge war er bereits letztes Jahr hier gewesen, hatte aufgenommen, sortiert und zu den Arbeitsgeräuschen seine Musik komponiert. Tontechnisch eine einwandfreie Arbeit, man hat eine genau passende Abstimmung zwischen der Konserve von der Baustelle und dem Live-Spiel des einsamen Pianisten, der nach unten hängend an dem Flügel sitzt.
Alles kommuniziert immer. Wir müssen es nur dechiffrieren
Eine Baustelle musikalisch zu hören liegt ja in einer gewissen Tradition, das Gegebene, das bei den Barockkomponisten noch die Gesänge der Vögel und bei Janacek später die Geräusche auf einem Bahnhof waren, als tonale Kommunikation zu verstehen.
Es trägt der Tatsache Rechnung, dass wir Menschen in den Tiefen unseres körperlichen Aufbaus die Arbeit, das Werk musikalisch empfinden – zumindest als tonale Kommunikation.
Der Blues von Mississippi-Cotton-Pickers oder das Bella Ciao der Mondini, der Frauen der Reisernte in der Poebene war es aber nicht, was wir hier hörten, auch nicht der Versuch industrielle Destruktion in Klängen abzubilden wie bei „Einstürzende Neubauten“.
Ein expliziter Gestus der Aufklärung über Anlässe oder Probleme der industriellen Postmoderne, eine Botschaft war bei „Piano Vertical“ in dem Sinne nicht auszumachen. Botschaftsneutral.
Die ungeheure Eigentümlichkeit, die euphorisierende Beängstigung der Bilder des winzigen Flügels vor dem in seiner vollen Höhe aufragenden Hotel-Tower muss noch nach Begrifflichkeiten suchen.
Es ist der spannende und wiederum eigentümliche Moment, eine neue Ästhetik verstehen zu wollen. Mit kleiner Mensch in großer Welt kommen wir nicht weiter. Etwas Ungeheures haftet dieser Performance an. Aber so ist das nunmal mit der Schönheit.
Weiteres Programm unter:http://whitebox.art/projekte/
AUTOR: Michael Wüst