Ein schöner Sommervormittag am 1. Juni vor dem WERK3. Eine junge Frau malt mit einem breiten Pinsel altertümliche Buchstaben auf den Asphalt. Ist das jetzt ein W oder ein M am Anfang? Der Sinn, die Bedeutung, ergibt sich, als weitere Buchstaben schwungvoll aneinander gereiht werden. Man liest. Melina Müller, ihres Zeichens Asphaltkalligrafin, hat mit Kreide, der Rügener Kreide, das Wort `Willkommen´ geschrieben – in der sogenannten Schwabacher oder Schwabacher Fraktur. Fraktur hat man schon einmal gehört, altdeutsche Schrift, Sütterlin…man hat ja auch alte Bücher daheim, bei denen es dauert, bis man das kleine S nicht mehr mit dem kleinen F verwechselt, was irgendwie kurz so etwas wie ein Lispeln im Kopf des Lesers erzeugt.
Wieviele Satzschriften heute in der Welt der elektronischen Datenverarbeitung als Fonts abgespeichert sind, läßt sich nur erahnen, es sind deutlich über 1.000 und es kommen ständig neue hinzu. Zusammen mit den oft sinnentkernten oder zumindest kryptischen Tags der Sprayer ergibt sich ein virtueller Wortturm babylonischen Ausmaßes.
Die alten Schrifttypen hatten kulturell wesentlich prominentere Bedeutung. Die Schwabacher Fraktur, erklärt Melina Müller, steht mit der Buchdruckkunst an der Wende zur Renaissance und löst die gotischen Schrifttypen ab. Martin Lutter und Gutenbergs Drucktechnik waren in heutigem Slang StartUp-Typen einer Medienrevolution, die der heutigen digitalen in nichts nachsteht.
Diese Revolution, die mit der Gutenberg-Bibel, entstanden zwischen 1452 und 1454, begann, hatte auch ihre Fake-Schattenseiten: Es wurde in der Folgezeit kopiert und geklaut, was das Zeug hielt. Der Gedanke an ein Recht des Urhebers war weit entfernt. Während Melina Müller das Wort Willkommen vollendet, spricht sie nicht. Kalligrafie hat in Asien, vor allem in Japan, den Stellenwert einer transzendental meditativen Kunstform. Noch im Mittelalter, zu Zeiten der Scholastiker Anselm von Canterbury und Meister Eckarts, stritten sich die Gelehrten darüber, ob das Wort, der Logos, selbst, in sich (intrinsisch), heilig ist oder ob es „nur“ etwas bezeichnet. (Universalienstreit)
„Hieroglyphe“ heißt „heiliges Zeichen“. Buchmaler und Kalligrafen verbinden die heiligen Zeichen in einem Schwung, dem voraus geht, dass der Gegenstand im Ganzen im Körper des Zeichensetzers als Bild bereits erfaßt ist. Und da kommen wir im Gespräch, auf dem Weg die Rampe hinauf, neben weiteren Worten in katholischer Unciale und der römischen Capitalis Monumentalis, zur Malerei, die nur möglich ist mit der Sicherheit eines Strichs, der „kalligrafisch“ ist. Dort treffen noch zu einem kleinen Gespräch Klaus Boesner, der im Mai 2016 hier die Zweigstelle des Fachgeschäfts für Künstlerbedarf boesner im Werksviertel-Mitte eröffnet hat und der Melina Müller eingeladen hat. In ein paar Tagen werden die Wortbotschaften Melina Müllers aus anderen Zeiten wieder verschwunden sein.
Weitere Infos unter https://www.facebook.com/melina.muller.39395
Text: Michael Müller