„Geister“, Teil 1 einer zweiteiligen Reihe mit Namen „Endless Pleasures“, hatte am Mittwoch, 27. März 2019, Uraufführung in mehreren Räumen des WERK 3, mit einer Schaltzentrale im Hauptraum der whiteBOX.
Dort fasste Komponist Marc Sinan (Gitarre) mit Oğuz Büyükberber (Klarinette und modularer Synthesizer) und Almut Kühne (Gesang) zusammen, was aus den entlegensten Räumen vom Keller bis zum dritten Stock an Klängen kam, sortierte, kombinierte, figurierte.
Den Besuchern öffnete sich die Tür an der Rampe um 18.00 Uhr. Sie folgten nun gelben und orangenen Bändern am Boden, um in sieben Räumen den Musikern zu begegnen. Zwei Stunden lang konnten sie in den einzelnen Räumen verweilen, so lange sie wollten. Der durch das lyrische Libretto von Maike Wetzel vorgegebene Zyklus, gesungen von Almut Kühne im siebten Raum whiteBOX, wurde zweimal bis zum Finale dort in der Zentrale durchlaufen.
Nicht nur Marc Sinan und Oğuz Büyükberber beeinflussten die Elemente aus der „transmedialen musikalischen Performance“ in Komposition und spontanem, improvisatorischem Zugriff, auch der Besucher selbst konnte seine Schwerpunkte selbst setzen durch seine Wegstrecken in Treppenhäusern und tiefen Kellerschächten. Trotzdem war es natürlich sinnvoll, nach den traditionellen Instrumenten der Musikerinnen des Ensemble ConTempo Beijing und dem beeindruckenden Gesang der Kasachin Ulzhan Baibussynova, auf Halbzeit etwa, sich in die Zentrale zu begeben, um zu hören, wie sich das Ganze fügte. Optisch flankiert waren alle Positionen von pulsierenden LED-Röhren, die mit Klängen und Akzenten mitagierten.
Die Texte von Maike Wetzel spielten um den Orpheus-Eurydike-Mythos, mal fraktal existenziell, mal schwelgerisch in der Weltferne der Ich-Du-Natur-Romantik. Und brachen auch erotisch aus: „Ich betrete den Ballsaal, ich kneife/ Die Augen zusammen. Du strahlst/ Willkommen, Geliebte. Wie schön,/ wie neu, wie wundervoll./ Meine Zunge rollt sich ein./ Fest verknotet wie die Taue an einem Kahn/.
Wie schon vor zwei Jahren bei „Radjasthan I Exist“, im Rahmen der indisch-deutschen Kooperation „Double Road“, findet Marc Sinan seinen ganz persönlichen Ausdruck in der Kombination von muskalischer Ethnographie, Atonalität und Jazz- und Fusion-Elementen. Vor zwei Jahren war das noch als Bilderbogen organisiert. Aus dem Nacheinander und der damals faszinierenden modernen Moritat wurde mit „Geister“ diesmal eine konsistente Komposition. In reiner Atonalität bevorzugt er ganz klassisch zwischen Schönberg und Boulez extreme, rigide Großintervalle, die die Sängerin Almut Kühne mit kraftvoller Kopfstimme einwandfrei meistert. Das wohl Einzigartige an der Konstruktion des Sinanschen Klangapparates ist aber die Konfronation dieser aller normalen Emotionen entfremdeten Artifizialität mit der ethnographischen Erzählung. Die Stimme der Kasachin Ulzhan Baibussynova, begleitet vom Saiteninstrument Dombra, zieht jeden in den Bann eines Mythos von urspringendem, tönendem Erz.
n einer Gemeinschaftsproduktion der Dresdner Sinfoniker und des Maxim Gorki Theaters Berlin war sie bereits in der Bearbeitung des Oghusischen Nationalepos „Dede Korkut“ von Marc Sinan die magische Mitte. Beim Finale in der whiteBOX wird sie vor dem Trio Sinan-Büyükberber-Kühne sitzen und unberührt und unberührbar von Begebenheiten, von der Provinz des Menschen berichten. Von Dingen, die wir nicht verstehen, in einer Sprache, die wir nicht verstehen. Hinter ihr brauen die Drei der Marc Sinan Company eine bedrohliche Cluster-Schlammlawine zusammen, immer wieder werden Jazz-Fusion-Brocken mit nach oben geworfen. Dafür sorgt Schlagzeuger Daniel Eichholz, der etwas eingeklemmt am unteren Ende der Treppenspirale für Subersivität sorgt. Saiteninstrumente (Jiakang Zhang an Zheng, Fanhe Liu an Pipa) aus einem burlesken Keller eines Clubbüros mit Ata Türk-Ikone und, fast 40 Meter darüber, aus einem Atelier kratzen und sägen, die Flöte unten am Eingang (Xiaohang Xiong an Dizi) trällert fast tänzerisch und die Mundorgel (Yang Zheng an Sheng) pumpt wie die Mundharmonika eines Asthmatikers. Es berührt Ulzhan Baibussynova nicht. Und wir? Vor dem Hintergrund einer verrückten Welt lauschen wir nur ihr. Und verstehen.
Text: Michael Wüst