WERK7 Theater, Werksviertel Mitte. Außen „FACK JU GÖHTE – SE MJUSICÄL“ im Sprayerlook. Drinnen, im nagelneuen Musical-Theater schrillt die Schulklingel und löst gemischte Gefühle und Erinnerungen aus. Eine weibliche Stimme schnauzt im Kommandoton eine Durchsage. Angeschaltene Handys werden konfisziert und bei ebay angeboten. „Dort könnt ihr sie euch ja wiederholen. Mein ebay-Name ist Gudrun69.“ Die Zugänge zu den einzelnen Blöcken der Tribüne sind versperrt mit Turngerät, einem Sprungkasten und einem Seitpferd.
Total aufgeregte Schulklassen-Puffies bringen ihre Lehrerinnen an den Rand der Verzweiflung. Da schrillt wieder die Schulklingel und wir begeben uns in die blauen Sitzschalen der Tribüne, die von drei Seiten den Bühnenbereich umschließt. Es ist die bei Theaterleuten gefürchtete zweite Vorstellung. Nach einer ekstatisch bejubelten Uraufführung mit minutenlangen Standing Ovations tags zuvor am Sonntag, 21. Januar, heißt es nochmal die Spannung herzukriegen. Auf jeden Fall ist auch heute, ohne zahlreiche Promi-Freikarten, die Musical-Turnhalle voll.
Der einfachen Bühne traut man erst einmal gar nicht zu, dass sie sich spektakulär für die grossen Illusionen des Musicals verwandeln kann. Abwarten. So ganz nebenbei tauchen grell gestylte sexy Hard Bodies auf, selbstbewusste Schönheiten, die ohne das Publikum zu beachten für den musikalischen Turnbetrieb herrichten. In dieses offene Intro dann unvermittelt ein Black mit lautem Knall. Schock. Martinshorn, Aufregung. Der Ex-Knacki Zeki Müller (Max Hemmersdorfer) kauert vor dem Sprungkasten. Die Beute aus seinem Raubüberfall, die seine Freundin aus der Table Dance-Bar auf einer Baustelle versteckt hatte, ist weg, dort steht jetzt die Schule, die fiktive Münchner Goethe-Gesamtschule des Films, die Turnhalle des Musicals.
Fack! Er ist dafür im Bau gesessen, und frei ist jetzt auch nicht. Mit einem genialen Griff ist die Figur eingeführt, inklusive Vorgeschichte. Ein inszenatorischer Paukenschlag (Regie, Christoph Drewitz), der das Publikum sofort mit Haut und Haar in Besitz nimmt. Und um es gleich vorweg zu sagen, die ganze Inszenierung ist ein Meisterwerk in Timing, Verwandlung, Präsenz und Power! Unglaublich mit welchem Groove die Bühnen- und Technikcrew samt Life-Band (im Off) diese kleine Turnhalle da unten im Griff hat und ein wahres Feuerwerk von Verwandlungen entfesselt.
Der Film, an dessen Plot sich „SE MJUSICÄL“ fast punktgenau entlang hangelt, mag für das rebellische Puffy-Publikum eine besondere Attraktion darin haben, dass er sich nicht von den voll krass ordinären Sprüchen distanziert. Hohoho – fett! Und auch „SE MJUSICÄL“ spart damit nicht, aber den kurzen Schon-fett-Kicherern bleibt immer wieder das Maul offen stehen, wenn Song und Tanz wieder so unvermittelt einsetzen und abräumen.
Trotz der geringen Mittel der Bühne hat buchstäblich jede Szene ihr eigenes Bühnenbild (Andrew D. Edwards). Ein Bühnenbild, das seine Einfachheit nicht verleugnet und trotzdem die Illusion herstellt. Das ist bestes Theater und widerlegt den gelangweilten Latte-Macchiato-Feuilletonisten und sein Urteil über das Genre: Musical sei mutloses Theater mit Musikeinlagen.
Die Schwimmbadszene! Zeki Müller, bereits Lehrer Müller mit gefälschtem Zeugnis, hat beim Ausflug ins Schwimmbad natürlich Trouble mit der bösen 10b, die schon Leher in den Suicid getrieben hat. „Spring ins Wasser“ (des Lebens) soll wohl so ein bisschen der pädagogische Ansatz sein. Aber niemand will da rein, in dieses Schwimmbecken der umgedrehten Turnmatten mit integrierten Trampolinen. Chantal, (Rebekka Corcodel), sonst mit weniger Credibility ausgestattet („Heul leise, Chantal“) hat ganz stolz ihre Tage, Danger (Lukas Sandmann) hat Fußpilzprobleme, Zeynep (Susi Studentkowski) macht´s nur mit Kopftuch, die Szene eskaliert und Zeki schlägt zu – in Zeitlupe mit Stroboskop-Effekt. Wunderbar.
Die Songs von Nicolas Rebscher, Simon Triebel (Juli, „Die Perfekte Welle“) und Kevin Schröder mischen Rap und Pop genial, die große Grief-Ballade mit rekordverdächtigen Belt-Voice-Höhen bleibt aus, die charmante Jugendlichkeit eines Singer/Songwriter-Feelings verlangt keine Sangeshochleistungen. Einzig Frau Gerster (Elisabeth Ebner), die Direktorin mit dem strengen Demi-Moore-Sex und Jerome (Robin Cadet), der Klemmi, der einmal saukomisch in einem Snack-Automaten eingesperrt ist und die Ausgabe machen muss, dürfen mit Ironie etwas tragendere Töne abliefern. Sonst beherrschen schon ganz heftige Nummern wie“Schule ist Amok. Alle drehen durch“ das Theater mit Publikumseinsatz bis in die Ränge hinauf.
Besonders rührend hat Choreograf Fredrik „Benke“ Rydman die reizende philanthropisch unschuldige Lehrerin „Lisi“ in Szene gesetzt. Lisa Schnabelstedt (Johanna Spantzel) hat einen kleinen S-Fehler und versteht angeblich viel von Vögeln. Will heissen interessiert sich für Ornithologie und tanzt einen wunderbaren Kranich, der sich die Flügel ausschüttelt. Zwischen Zeki, der an seiner Aufgabe wächst und Lisi knistert es schon von Anfang an. Mehr von ihrer Seite. Zug um Zug „öffnet sie mehr ihr Ckakra“, verliert ihre bezaubernde Schüchternheit und mit der Kraft von Lama-Sexualhormonen erreicht sie auf den Kletterseilen der Turnhalle den Climax mit „Touch my Boody, Taj Mahal“. Müsste eigentlich klar sein, dass sie sich bei den Schüler-Ag-Proben von Romeo und Julia, respektive Rambo & Yoda finden. Oder? Genug gelesen. Hingehen! Kultfaktor 100!