Gegen Ende des großen Kooperationsprojekts „Double Road“ mit indischen Künstlern aus Bangalore zeigte Suresh Jayaram am 26. Juli 2017 im MaximiliansForum Kurzfilme aus den 90er Jahren.
Diese spielen kurz vor dem rasanten Umbruch dieser Stadt, die damals noch geprägt war von landwirtschaftlicher Ruhe, zu einer führenden IT-Metropole. Er präsentierte neun Filme, allesamt von Künstlern aus Bangalore, die damals mit billigen Digi-Kameras angefangen hatten zu experimentieren. Was auf den ersten Blick in seinem Umfang auf dem Programmzettel fast abschreckte, erwies sich als äußerst spannend, auch wegen der klugen Zusammenstellung des Kurators Suresh Jayaram, der im Juni den ersten indischen Künstlern in die whiteBOX-Residency nachgefolgt war.
Filmische Dokumente am Vorabend der indischen Globalisierung
Warum so spannend? Wohl kaum jemand, der von Indien hört, wird nicht an Menschenmassen denken auf dem vornehmlich subtropischen Subkontinent, der schon zu Zeiten des frühen Mittelalters der am dichtesten besiedelte Teil der Erde war. Die Masse Mensch ist jedoch in keinem der Filme das Thema. Die Ausstellung Double Road in der whiteBOX hatte bereits einen Eindruck vermittelt. Es geht vielmehr, um mit Elias Canetti zu sprechen, um die Provinz des Menschen. Gegenstände, Zivilisationsspuren sind schweigende Zeugen einer Vorahnung am Vorabend der globalen Revolution, verquickt teilweise mit Sci-Fi-artigen Szenerien der Verlassenheit. Als wäre mit der Umwandlung Indiens in einen modernen digitalen Staat, eine uralte Zivilisation verschwunden, hätte aufgegeben zu sein.
Schweigend fährt die Kamera im Film “I am Micro”, ich bin verschwindend (klein) von Shai Heredia und Shumona Goel durch ein menschenleeres, vom Staub der Zeit bedecktes Gebäude einer Firma für optische Produkte. Wie in Tarkowski-Filmen erzählt eine vom Menschen verlassene Szenerie. Schweigend. Eine müde, alte Stimme berichtet vom Aufgeben, von Niederlagen auf dem Feld des Kommerzes, von der Zerstreuung der alten Ordnungen. (“Everything is scattered”) Wie ein bitter ironischer Rückblick wirkt die plötzlich eingestreute Sequenz eines Drehs, der eine müde, dilettantische Folter oder eine Festnahme eines Mannes zeigt. Unambitioniert schlagen Komparsen an einem Mann mit umgehängten Seil vorbei, ein Beleuchter hält als Funzel eine Stehlampe ohne Schirm hoch. “In this game everybody can be killed”. In der Klamotte langweilt sich selbst der Tod. Aber er ist da. Der Film führt teilnahmslos zurück in die verstaubte Firma der alten Optik und endet mit Blick auf eine im Staub der Zeit erblindete Kamera.
“Manna Payana” (The Journey of the Earth) von M S Prakash Babu öffnet uns den Blick auf eine Welt in Farbe – allerdings in der ersten Einstellung gesehen durch ein eisernes Gitter in einer Mauer. Dort in der Welt der Farbe spielt ein Kind. Der Bub hat einen Kegel in der Hand, aus dem er einen Ball, der mit einer Schnur verbunden ist in die Luft klicken kann, den er aber mit dem Kegel meistens gar nicht auffängt.
Felder, Feldwege, Hunde, die die herumschnüren und die Zeit vertreiben. Der Junge nähert sich in seiner Subjektive einem rostig korrodierten Motor in einem Loch im Boden. Dazu ertönt der gequälte Schrei einer Katze. Da taucht der Vater auf und gibt dem Jungen sein Erwachsenenfahrrad. Auf den Sitz kann sich der Kleine nicht setzen, also tritt er im Stehen und lässt das Rad einen Abhang hinablaufen. Ein Kleinlaster taucht auf und dreht um. Der Vater will etwas von dem Fahrer, der nichts hört. Er läuft dem Kleinlaster nach, erreicht in nicht, sondern bleibt an einer Straße stehen, die vielleicht eine Bushaltestelle ist. Die Welt der Farbe. Das Zikadengeschwirr, das während des Films unterlegt ist, wird zu einer Musik, die sich anhört wie die Notierung von Gleichstrom.
“The Mountain” – Les Invisibles von Amshu Chukki berichtet von modernen Menschen, die sogar Schneemobile haben. Spielort ist eine überdachte Vegetation, die auch ein künstlicher Lebensraum auf dem Mars sein könnte. Eine Zone, die an Tarkowskis Film “Stalker” erinnert. Über die Unsichtbaren sagt die Stimme, sie hätten kein Telefon gehabt, wurden aber unterrichtet über die Sterne. Sie sind weg, klar. Ein Blick auf Sterne, das was frühere Menschen auch das Himmelszelt nannten, ist aber unter dem Dach dieser künstlichen Globosphäre nicht vorgesehen. Über einer unlustig ihrem Wucherungsauftrag nachgehenden Vegetation mag es dagegen mal die Animation einer Schneelandschaft geben, Zuschauer werden allerdings nicht vermutet. Denn das Projekt ist wohl amortisiert.
Drei von neun Filmen, die alle eine sehr deutliche Sprache in ihrem Schweigen gesprochen haben. Dreieinhalb Milliarden Menschen auf der Welt verdienen täglich unter zwei Dollar. Aber dafür entschädigt uns die Tatsache, dass Indien die besten Programmierer hervorbringt. Der Welt.
Absolut sehenswert, zum Nachdenken angeregt und von der Ausstellung Double Road in der whiteBOX unterstrichen. Danke für diese Eindrücke.