Wir sind bei Martin Schmidt zu Gast in einem Atelier im Werk 3. Martin Schmidt kam wie die meisten der 23 Künstler in den whitebox-Ateliers heuer nach Ablauf der 5-Jahresvertäge in der Baumstraße auf Initiative der Stadt zu Dr. Martina Taubenberger, der Geschäftsführerin der Ateliers und der Kunsthalle whitebox und man wurde schnell handelseinig. Martin Schmidt begann mit einer Lehre als Holzbildhauer und Schnitzer in Oberammergau, studierte an der Münchner Akademie Bildhauerei und wurde Meisterschüler und später Assistent von Prof. Olaf Metzel. 2003 bis 2005 war er Mitglied der Kommission für Kunst am Bau und im Öffentlichen Raum, München (QUIVID).
Blog: Die Themen, die sich im Blick auf Ihre in Umfang und Inhalt reiche Arbeit darstellen, sind zunächst Realismus und Architektur. Im Realismus, der als Begriff zu einer literarischen Phase des 19. Jahrhunderts gehört und als Fotorealismus wieder auftaucht in der amerikanischen Malerei der 1960er Jahre finden wir Sie als Zeichner, in der Architektur als Bildhauer. Architektur bedeutet für Sie Kulturgeschichte des Öffentlichen Raums seit der Agora der Griechen bis zu den heutigen Glas-Stahl-Bauwerken seit Beginn der neoliberalen Zeit Anfang der 1980er Jahre, bedeutet das Leben der Menschen unter der Wirkung der Architektur, die ihrerseits als jeweiliger Ausdruck der herrschenden politischen Agenda zu hinterfragen ist. Sie selbst wollen aber kein Theoretiker sein, wie Sie sagen, die Unabhängigkeit Ihres subjektiven Denkens ist Ihnen wichtiger, als ständig überprüfen zu müssen, mit welcher Beobachtung Sie welchem ideologischen Lager wohl zuzurechnen seien.
Martin Schmidt: Als Bildhauer und Zeichner beschäftige ich mich mit der realen, mich umgebenden Welt. Die Zeichnungen erlauben mehr Detailreichtum als die reduzierteren Installationen und Skulpturen. Letztere haben eine Platzhalterfunktion für ihre realen Vorbilder; Nachbauten, die aber nur optisch funktionieren. Trotz Wiedererkennbarkeit wirken sie abstrakt. Sowohl Zeichnung als auch Bildhauerei basieren auf Beobachtung. Architektur als Thema war von Anfang an da, ohne dass ich es forciert habe. Vielleicht weil das Haus, die Burg, die Stadt als Beginn der Zivilisation gelten. Diese setzt Sprache, Ackerbau und Sesshaftigkeit voraus. Die Geschichte der Architektur spiegelt also die Entwicklung der Menschheit wieder.

Der Blick des Patienten (2008) Bleistift auf Papier, 200 x 142 cm. Foto: Herrmann Reichenwallner
Blog: Die fotografisch exakte Übereinstimmung Ihrer Zeichnungen mit der Wirklichkeit ist frappierend, umso frappierender, wenn, wie im „Blick des Patienten“ die gleichförmige Struktur einer eingebauten Decke in einer Zahnarztpraxis dominiert. Letztlich Material aus dem Baumarkt. Hier können nicht die Seele eines Wesens, das Leben einer Straße, Szenen einer Stadt wiedererkannt werden. Trotzdem gibt es auch hier den Teilnehmereffekt des Künstlers. Selbst dieser Realismus trägt eine Veränderung der Wirklichkeit in sich? Ist es nicht selbst die Zeichnung, sondern eine eigenwillige Haltung des Zeichners, der in der Warenwelt verschwindet? Das wäre ja bei Ihren Installationen auch zu bemerken.
Martin Schmidt: Der Mensch beobachtet punktuell und mit schnellen Blickfolgen. Das Gehirn versteht die Menschenmenge durch die vielen Bilder einzelner Personen. So könnte man auch meine Motivwahl erklären: Nebenschauplätze eines großen Ganzen. Der Blick des Patienten auf dem Zahnarztstuhl ist während der Behandlung auf die Praxisdecke reduziert. Diese eigenwillige Auswahl erklärt vielleicht das, was Sie den „Teilnehmereffekt des Künstlers“ nennen.
Blog: Wenn es um das Kopieren mittels digitaler Rechenprozesse geht, entstehen andere Effekte wie der des „Uncanny Valley“ (unheimliches Tal). Hier stellen die Computer-Simulatoren des organischen Lebens in den Videos der datenanimierten, gerechneten Gesichtsausdrücke in Video-Spielen und in der Robotik fest, dass irgendwie eine Qualität des Unheimlichen oder Fremden in ihre Avatare mit zunehmender Perfektion und Datendichte hinein gerät. Eine andere Motivation. Tatsächlich das Optimieren der Kopie. Die Natur scheint sich aber nicht in die Ketten der Algorithmen legen zu lassen.
Martin Schmidt: Seit den Höhlenmalereien von Chauvet vor ca. 35.000 Jahren versucht der Mensch das Erlebte aus der Natur zu „kopieren“. Die Möglichkeiten des Darstellens haben sich seither nicht wesentlich erweitert. Allerdings haben sich die Werkzeuge in der letzten Zeit weiterentwickelt. Die Computer werden aber immer noch von Menschen programmiert. Interessant – aber vielleicht auch langweilig – wird es erst, wenn sich der Mensch selbst wegrationalisiert hat.
Blog: Wenn ich mir Bilder von Edward Hopper anschaue, der ja auch in den Kreis der amerikanischen Fotorealisten gehört, spüre ich, wie er eigentlich immer eine Seele malt. Die der einsamen Menschen in seinen Bildern oder seine, die bei ihnen ist. Was ist ihr Prozess beim Zeichnen? Was passiert den Betrachtern, sofern sie das äußern? Was ist Realismus?
Martin Schmidt: Machen und Betrachten sind zwei unterschiedliche Erlebnisse, die sich nicht ähneln müssen. Obwohl Macher und Betrachter konträrer Meinung sind, haben beide Recht. Wahrnehmung unterscheidet sich je nach Standort. Ich arbeite nur nach meinen eigenen Regeln und Vorgaben und habe keinen Einfluss auf die Reaktion des Betrachters. Jeder denkt in seiner eigenen Realität.
Blog: Eric Schmidt, bis vor Kurzem Executive Manager von Google, Silicon Valley, sagt wie andere aus dem unheimlichen Tal, die Welt sei eine Simulation. Das ähnelt irgendwie dem Paradiesversprechen der Religionen, zum Zweck das irdische Leben als weniger wichtig zu nehmen.
Martin Schmidt: Eric Schmidt muss es so sehen, um seine digitale Welt zu rechtfertigen, Martin Schmidt verteidigt noch die analoge Welt. Martin hofft aber nicht, dass Eric das Digitale mit dem Paradies verwechselt, welches übrigens nur in Kombination mit der Hölle als Drohung funktioniert.

Tankstelle (2000) Alublech auf Stahl. Foto: Herrmann Reichenwallner
Blog: In einem Gespräch über Ihre Zeit in Rom haben Sie mich überrascht. Sie beschreiben, wie unter dem Druck der antiken Artefakte das Zeitgenössische in die Vorstädte verdrängt wird. In diesem Zusammenhang erwähnen Sie Mussolini, der seine Aufmarschstraße Via dei Fori Imperiali quer durch die Ruinen des Forum Romanum bauen ließ. Das passt zu den hohen Wellen der Empörung, die die Pläne des Architekten Chipperfield schlagen, der das Haus der Kunst wieder sichtbarer machen will.
Martin Schmidt: Ist ein Leben unter dem Denkmalschutz möglich? Ja, denn seit Jahrtausenden wird mit historischen Bauten gelebt und die Stadt weiterentwickelt. So entstanden unsere schönen Altstädte mit verschiedenen Baustilen aus verschiedenen Epochen. Seit einiger Zeit versucht man aber mit Identität stiftenden Bauten wie Schlossrekonstruktionen oder Show-Architekturen glitzernde Idealstädte zu kreieren. Politisch unbequeme Gebäude werden versteckt oder abgerissen. Im Gegensatz zu Mussolini, der die römische Kulisse des Foro Romano als persönliche Bühne benutzte, will Chipperfield das Haus der Kunst in München innen als Öffentlichen Raum freigeben. Durchaus zwei unterschiedliche Ansätze mit historischen Bauten umzugehen.